Eiben.Felsen.Apfelbäume. 2. Tag: San Vicente – Lafuente

Freitag, 14.August 2015

Endlich mein erster Pilgertag!

Nach einem spanischen Frühstück mit den anderen Spätaufstehern – die meisten Pilger sind schon unterwegs – schnüre ich als Letzte meine Wanderstiefel und schultere den Rucksack.

Auf einem Teersträßchen geht’s ins Land hinaus.
Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht, es ist kühl, aber immer öfter blinzeln Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hindurch. Ich überquere eine Autobahn und kurz darauf ein Bahngleis, die Landschaft wird hügelig, die Ausblicke aufs Meer immer seltener.
Der Weg ist hier gut markiert – ein stilisiertes Kreuz weist den Pilgerweg nach Santo Toribio und der gelbe Pfeil den nach Santiago. Vorerst verlaufen die beiden Wege noch gemeinsam.
In Hortigal treffe ich an der Kirche auf drei Spanier mit Rucksäcken, die ihre Nasen in ein Blatt Papier stecken und eifrig diskutieren. Sie erklären mir, dass sie den „alten Weg“ nach Santo Toribio gehen wollen. Der „neue“ – nämlich der mit dem Kreuz markierte, über Serdio – sei viel länger und führe nur auf Asphaltstraßen. Sie zeigen mir ihr Papierblatt, es ist die Kopie einer Landkarte in so genauem Maßstab, dass ich nichts erkennen kann, außer, dass einer der mit Textmarker hervorgehobenen Wege tatsächlich kürzer zu sein scheint als der andere. Inzwischen ist der Rest der nun achtköpfigen Männertruppe dazugekommen, ein Feldweg wird begutachtet, hin und her überlegt… Gut, meine ich, dann geh ich den neuen Weg und ihr den alten, und dann werden wir sehen, wer eher da ist.
An der nächsten Abzweigung, nach Gandarilla, hole ich dann aber doch auch meine Übersichtskarte im Maßstab 1:200 000 hervor. Auch meine Wegbeschreibung von Michael Kasper schlägt den Weg über Gandarilla vor, und während ich Buch und Karte in der Tasche verstaue, tauchen die Männer wieder auf, denen ihr Feldweg nun wohl doch nicht ganz geheuer war. So wandern wir also zusammen in lockerer Formation durch ein weites Bachtal, zwischen Viehweiden und mit Blick auf ein romantisches Felsenufer, auf der Straße dahin. Dieser Weg ist mit roten Pfeilen markiert.

Vor einer imposanten, einstmals herrschaftlichen, nun aber verlassenen und heruntergekommenen Villa erklärt uns der „Chef“ der Spaniergruppe, was es mit den „Indianos“ auf sich hat: im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten viele Leute aus den armen Gegenden Nordspaniens in die spanischen Kolonien Südamerikas aus, um dort zu arbeiten und zu Reichtum zu gelangen. Mit viel Geld in der Tasche kehrten sie in ihre Heimat zurück, bauten sich da prächtige Häuser in einem phantastischen, üppigen Baustil und bepflanzten ihre Gärten mit exotischen Bäumen.
Tatsächlich entdecken wir Palmen, Zedern und etliche andere in der Gegend nicht heimische Bäume in dem verwilderten Garten.

Kurz vor Mittag ist es jetzt doch schön warm geworden. Ich lasse die Männergruppe weiterziehen und mache, etwas abseits der Straße, eine Pause an einem klaren, an dieser Stelle etwas angestauten Bächlein. Moos und glitzernde Steine auf dem Grund des kleinen Teichs verführen mich zum Träumen, die Tomate, die grünen Oliven und das Wasser aus der Flasche schmecken köstlich und ich habe alle Zeit der Welt. Meine Spanier müssen nach Quintanilla, weil sie dort ein Hotel gebucht haben, ich dagegen habe mir vorerst das Dorf Cades zum Ziel gesetzt, wo mein Faltblatt eine Pilgerherberge verspricht. Bis dahin sind es, von San Vicente, nur knapp 18 km.

Wieder auf der Straße, holt mich eine Pilgerin ein – Carmen aus Colorado.
Carmen ist bis San Vicente auf dem Nordweg gepilgert. Jetzt hat sie noch ein paar Tage Zeit und ist unschlüssig, wohin sie nun möchte. Als ich ihr erzähle, dass ich in die Picos gehe, ist sie von der Idee hellauf begeistert und beschließt sogleich, mitzukommen. Im Moment ist allerdings ihr Hauptproblem, dass sie das Ladegerät für ihre Kamera zuhause gelassen hat und ihr Akku leer ist, und das scheint sie mehr als alles andere zu beschäftigen. Ich ahne ja zu diesem Zeitpunkt nicht, welche dummen Kamera-Probleme mich selbst auf dieser Reise  erwarten würden und dass ich am Ende nur Bilder in wahrhaft jämmerlicher Qualität nach Hause bringen würde – sonst wäre ich mit Carmen gewiss mitfühlender!

Kurz vor Cades entdecken wir neben der Straße einen Info-Stand für Touristen. Da erfahren wir, dass die Herberge in Cades schon seit längerem nicht mehr existiert. Aber der junge Mann, der sich in seinem Häuschen vermutlich langweilt, schreibt uns die Telefonnummer der Herberge von Lafuente auf.

Immerhin gibt’s ein kleines Restaurant in Cades, in dem Carmen etwas essen und ich meinen Kaffee trinken kann. Ein paar Urlauber sind da, es gibt eine historische, anscheinend sehenswerte Schmiede, aber viel los ist nicht in dem Dörfchen. Bei einem kleinen Rundgang plaudere ich ein bisschen mit einem rüstigen älteren Mann. Ob ich keine Wanderstöcke hätte, fragt er. Ich bin erst 57, sag ich, vielleicht, wenn ich 60 bin, kauf ich welche. Was ich glaube, wie alt er sei? 80! Na also, sag ich, und du hast erst einen Stock. Wenn du 100 bist, nimmst du dann zwei… Ach, ich liebe diese kleinen Begegnungen mit den Dorfbewohnern. Hier, abseits der überlaufenen Wege, ist jeder für so einen kleinen Ratsch mit den „Fremden“ zu haben – auf diese Weise hab ich spanisch gelernt!

Bis Lafuente sind´s noch 10 Kilometer. Zwar sind wir noch frisch und die Abende hell, und Überfüllung der Herbergen brauchen wir wohl hier nicht zu befürchten, aber vorsichtshalber rufe ich doch die Nummer der Herberge an. Tatsächlich meldet sich jemand, und obwohl die Verbindung miserabel ist, verstehe ich „si“ und „hasta luego“ – dann kann ja nichts mehr schiefgehen!

Nun geht’s das Tal des Rio Lamason entlang, immer weiter hinauf und in die Berge hinein und die Ausblicke auf nahe Felsformationen und ferne Gipfel, die allerdings Wolkenmützen aufhaben, werden immer beglückender. Das entschädigt dafür, dass man weiterhin die Straße entlang laufen muss; wenigstens fahren hier kaum Autos.

Die Männertruppe hole ich an einem Rastplatz mit Aussicht auf einen Stausee, der tief unter uns im Tal liegt, ein. Sie erzählen, dass morgen ein Anstieg von 900 Höhenmetern auf uns warte, und auch, dass man in Lafuente nichts einkaufen kann. Jedoch scheint es in Quintanilla, etwa 1 km abseits des Weges, einen Laden zu geben. Das muss Carmen natürlich auch erfahren, und deshalb warte ich auf sie. Wir gehen nämlich meist jede für sich.

Die Sonne steht bereits tief, als wir auf einer Steinbrücke das Flüsschen Lamasón, das auch dieser Gegend den Namen gibt und das auf den letzten Kilometern in einer Schlucht unterhalb der Straße in seinem felsigen Bett dahingehüpft war, überqueren. Auf dem Weg nach Quintanilla begegnen uns zwei Frauen aus dem Dorf. Der Laden sei zwar geschlossen, aber wir sollen im Hotel fragen, da würde dann jemand kommen und uns aufsperren.
So ist es dann auch. Wir kaufen fürs Abendessen ein und Vorräte für morgen. Einige hübsche, aus rötlichen Steinen errichtete alte Anwesen gibt’s in Quintanilla und einen Dorfbrunnen, aus dem üppig herrliches Quellwasser sprudelt.
Die spanische Pilgergruppe hat sich´s bereits mit einer Cerveza vor dem Hotel gemütlich gemacht. Wir haben noch drei Kilometer vor uns und merken, dass unsere Füsse nun auch allmählich genug haben für heute.
Die weiße Kirche von Sobrelapeña strahlt in der Abendsonne von einem Hügel herüber, die Glocken läuten, ein paar Kinder laufen lachend und singend zur Messe.

Dann liegt Lafuente vor uns, ein langgezogener Ort, der sich malerisch ins Talende schmiegt, umgeben von Bergen. Steinhäuser, gedeckt mit roten, aus Ton gebrannten Dachziegeln. Gleich am Ortsanfang die romanische Kirche. Jetzt ist sie natürlich geschlossen. An einem Außenkapitell lächeln mich zwei flache, runde Gesichter an, die einem uralten steinernen, aber wohl glücklichen Paar gehören.

Zur Herberge müssen wir das ganze Dorf durchqueren, ganz am Ende ist sie, oben am Hang, im ehemaligen Schulhaus, das zur Pilgerunterkunft umgebaut wurde. Da wartet Michao auf uns, der junge polnische Hospitalero, der auf seiner Suche nach einem Platz zum Leben erst vor kurzem hierhergefunden hat. Er ist glücklich hier, sagt er, denn er liebt die Ruhe und Abgeschiedenheit und braucht nichts. Nur ein Dach überm Kopf. La Fuente – die Quelle, für ihn die Quelle innerer Erfüllung.
Wir sind die einzigen Gäste in dieser herrlich gelegenen und blitzsauberen Herberge. Während Carmen und Michao – er spricht perfekt englisch – über das Glück und das Leben philosophieren, wasche ich die Wäsche und mich, genieße die Landschaft im letzten Abendlicht und lausche dem fernen Gebimmel der Herdenglocken. Und dann teilt Michao seine Gemüsesuppe mit uns – den Tisch hat er liebevoll gedeckt und eine Kerze angezündet. Unsere Vorräte bleiben im Rucksack.
So ruhig und wunderbar friedlich endet dieser erste Pilgertag.
Kaum zu glauben – keine dreißig Kilometer liegen zwischen dem lauten Menschengetümmel gestern in San Vicente und dieser Bergeinsamkeit. Das Gestern – und ebenso das Vorgestern und mein Leben zu Hause mit all seinen Aufgaben und Sorgen gehört zu einer anderen Welt.

2b Landschaft 0561-Kühe auf dem Weg nach Gandarilla0472-Kettenhunde 0481h Hunde 0508-Brunnen Quin.069 4-Am Brunnen0581g Markierung C. Lebaniego 0399-Kirche Sobrelapena0717-Quintanilla066

10 kirchenvorbau Lafuente 07611-Köpfe Kirche Lafuente079

14- Lafuente Herberge 08415-Lafuente von oben 085

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